1. Definition und Bedeutung der Sektorenvergabe
Die Sektorenvergabe bezeichnet die Vergabe öffentlicher Aufträge durch Unternehmen, die in speziellen Wirtschaftssektoren tätig sind, insbesondere in Bereichen mit begrenztem Wettbewerb oder hohem öffentlichen Interesse. Sie unterliegt besonderen vergaberechtlichen Vorschriften, die sich von der klassischen öffentlichen Auftragsvergabe unterscheiden.
Die europäische und nationale Rechtsgrundlage für die Sektorenvergabe bildet insbesondere die Richtlinie 2014/25/EU über die Vergabe von Aufträgen durch Auftraggeber im Bereich der Wasser-, Energie-, Verkehrs- und Postdienste. Diese wurde in Deutschland im Vierten Teil des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB) sowie in der Sektorenverordnung (SektVO) umgesetzt.
2. Die Sektoren mit besonderen Vergabevorschriften
Die Sektorenvergabe betrifft die folgenden Branchen:
- Wasserversorgung (z. B. kommunale Wasserversorger)
- Energieversorgung (z. B. Netzbetreiber, Stadtwerke)
- Verkehrsdienstleistungen (z. B. Flughäfen, Häfen, Schienennetzbetreiber)
- Postdienste (z. B. Deutsche Post und Wettbewerber mit Universaldienstverpflichtung)
Diese Sektoren unterliegen der Sektorenvergabe, weil sie oft von wenigen Akteuren dominiert werden oder natürliche Monopole darstellen. Der Gesetzgeber stellt sicher, dass der Wettbewerb gewahrt bleibt und öffentliche Gelder effizient eingesetzt werden.
3. Vergabearten
Je nach Branche gibt es verschiedene Vergabearten, die auf die besonderen Gegebenheiten abgestimmt sind:
a) Offenes Verfahren (§ 15 SektVO)
- Jeder Interessent kann ein Angebot abgeben.
- Vorteil: Höchste Transparenz und größtmöglicher Wettbewerb.
- Nachteil: Lange Verfahrensdauer und hoher Verwaltungsaufwand.
b) Nicht offenes Verfahren (§ 16 SektVO)
- Nur ausgewählte Unternehmen dürfen Angebote abgeben.
- Vorteil: Geeignet für komplexe und branchenspezifische Aufträge, da nur qualifizierte Unternehmen teilnehmen.
- Nachteil: Eingeschränkter Wettbewerb.
c) Verhandlungsverfahren (§ 17 SektVO)
- Auftraggeber können mit ausgewählten Unternehmen über Angebote verhandeln.
- Vorteil: Größere Flexibilität, insbesondere für innovative Projekte.
- Nachteil: Geringere Transparenz.
d) Wettbewerblicher Dialog (§ 18 SektVO)
- Besonders für Großprojekte oder komplexe Infrastrukturmaßnahmen geeignet.
- Vorteil: Lösungen können im Dialog mit Unternehmen entwickelt werden.
- Nachteil: Sehr aufwendiges Verfahren.
e) Innovationspartnerschaft (§ 19 SektVO)
- Anwendbar für die Entwicklung neuer Produkte oder Dienstleistungen.
- Vorteil: Ermöglicht langfristige Partnerschaften zwischen öffentlicher Hand und Unternehmen.
- Nachteil: Schwierig zu gestalten, um Wettbewerbsverzerrungen zu vermeiden.
4. Besondere Herausforderungen und Unterschiede nach Sektoren
Jeder Sektor hat spezifische Besonderheiten, die sich auf die Vergabe auswirken:
Wasserversorgung
- Oft in öffentlicher Hand, aber zunehmende Privatisierung.
- Umfassende Anforderungen an Umwelt- und Gesundheitsstandards.
- Beispiel: Rechtsprechung des EuGH zur Ausschreibungspflicht kommunaler Wasserverträge („Remondis“-Urteil, Rs. C-51/15).
Energieversorgung
- Großprojekte wie Offshore-Windparks oder Stromnetze bedürfen langer Planungszeiten.
- Besondere Anforderungen durch das Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG).
- Beispiel: Vergabe von Stromkonzessionen und die „Stadtwerke-Entscheidung“ des BGH (Az. KZR 65/14).
Verkehrsdienstleistungen
- Große Infrastrukturprojekte (Flughäfen, Bahnhöfe, Autobahnen).
- Häufig öffentlich-private Partnerschaften (PPP) erforderlich.
- Beispiel: EuGH-Urteil zu den Kriterien für die Direktvergabe von ÖPNV-Leistungen (Rs. C-385/18 „Trapeze Group“).
Postdienste
- Liberalisierung des Marktes hat neue Wettbewerbsbedingungen geschaffen.
- Universaldienstverpflichtungen schränken die Vergabeoptionen ein.
- Beispiel: Rechtsprechung des EuGH zur Marktöffnung und Gleichbehandlung (Rs. C-340/02 „Deutsche Post AG“).
5. Rolle des Vergaberechtlers in der Sektorenvergabe
Für Vergaberechtsexperten gibt es zahlreiche Tätigkeitsfelder in der Sektorenvergabe:
- Beratung von Auftraggebern bei der Wahl des richtigen Vergabeverfahrens.
- Erstellung von Ausschreibungsunterlagen einschließlich Leistungsbeschreibungen und Bewertungskriterien.
- Begleitung von Bietern bei der Angebotsabgabe und rechtlichen Prüfungen.
- Vertretung in Nachprüfungsverfahren vor der Vergabekammer oder den Gerichten.
- Compliance-Prüfungen, um Vergabeverstöße zu vermeiden.
- Strategische Beratung bei Verhandlungsverfahren oder Innovationspartnerschaften.
6. Sektorenvergabe
Die Sektorenvergabe unterscheidet sich erheblich von der klassischen öffentlichen Vergabe und erfordert spezifisches Fachwissen. Die Besonderheiten der einzelnen Sektoren, verschiedene Vergabearten und komplexe rechtliche Rahmenbedingungen machen die Beratung durch Vergaberechtler unerlässlich. Rechtsprechung des EuGH und BGH prägt das Gebiet laufend, weshalb Vergaberechtsexperten sich kontinuierlich mit neuen Entwicklungen auseinandersetzen müssen.